Erich Rendigs

Erich Rendigs

 

 

 

Meine ersten Erinnerungen reichen weit in den ersten Weltkrieg zurück. Das Elternhaus - eine Dorfschule - stand in dem kleinen Marschendorf Dreye. Es war vor 125 Jahren gebaut worden, ganz den Erfordernissen der damaligen Zeit entsprechend - als Bauern-, Wohn- und Schulhaus zugleich. Die räumliche Aufgliederung entsprach der des niedersächsischen Bauernhauses. Der Straßenseite zugewandt die große Dielentür (Neddendör), die meistens offen stand. Dahinter die Diele mit dem gestampften Lehm. Zur Rechten wie zur Linken Buchten und Stallungen, dann ein paar Wohnräume und ganz am Ende - die gesamte rückwärtige Giebelseite einnehmend - ein großer Klassenraum.

 

 

 

Und oben auf dem Boden lagerten noch gegen Ende der zwanziger Jahre Holz- und Torfvorräte, ferner Heu und Stroh . . . und Korn zum Trocknen. Im Laufe der Jahrzehnte wurde das Gebäude mehrfach umgebaut. Die Diele wurde zum Flur, die Stallungen zu Wohn- und Schlafräumen, und das Vieh erhielt neben dem Hause ein besonderes Stallgebäude.

 

 

 

Die Familie war groß. Sieben Kinder. Das Ge- halt eines Landlehrers klein. Daher betrieben die Eltern, beide aus alten Bauerngeschlechtern stammend, nebenbei noch eine Landwirtschaft: zwei Milchkühe, ein Rind, zwei Zuchtsauen, sechs bis acht fette Schweine, je zwei Schafe und Ziegen, dazu reichlich Federvieh. Dieser Viehbestand vergrößerte sich aber zusehends, wenn sich im Frühjahr von der Kuh bis zur Henne Nachwuchs einstellte. - An manchen Tagen mußte Vater mehr in der Landwirtschaft als in der Schule tätig sein. Wenn z. B. ausgerechnet während des Unterrichts eine der Kühe sich anschickte zu kalben, dann beschäftigte er, unter Aufsicht eines älteren Schülers, die Kinder. Anschließend ging er in den Stall, um der Kuh.beim Kalben beizustehen. Nach gründlicher Reinigung konnte er danach den Unterricht wieder aufnehmen.

 

 

 

So war es auch für die Kinder der Familie selbstverständlich, wenn neugeborene Ferkel, die aus irgendeinem unerfindlichen Grunde von dem Mutterschwein verstoßen wurden, in einer mit Stroh ausgelegten Weidenkiepe neben dem Wärme spendenden Küchenherd Zuflucht fanden und mit der Flasche aufgezogen wurden.

 

 

 

Oft ging es im Sommer an der Hand der Mutter zum Henkenwerder, wo die beiden Kühe des Schulhauses mit denen von einigen Anbauern und Häuslingen gegen Pachtgeld weideten - zehn Minuten Wegstrecke entfernt. Dann nahm Mutter von der Wand das Milchjoch, legte es auf die Schulter, hakte zwei Milcheimer an die Kette und begab sich mit ihrem Jüngsten in Richtung Weide. War es sehr heiß, dann standen die Kühe oft im seichten Uferwasser der Weser. Noch heute höre ich im Traum den melodischen Ruf meiner Mutter: „Komm, Teschen, komm . . .", was sie einige Male wiederholte. - Das Melken geschah in gewohnter Gelassenheit. Drohte aber aus Richtung Kirchweyhe eine dunkle Wolke über die Marsch hinweg sich mitten über der Weide zu entladen, dann ergriff sie schnellstens alles, nahm mich fest an sich, verbarg mich, wenn es schlimmer wurde, unter ihrem weiten Rock vor dem strömenden Regen und eilte mit mir zu der großen Kastanie, die ziemlich weit ab, nahe am Eingangsgatter stand. War das Unwetter abgezogen, ging es ruhig nach Hause. Vorsorglich hatte Mutter noch ein Frühstücksbrett in jeden Eimer gelegt, damit die kostbare Milch nicht überschwappte.

 

Friedrich Gottlieb Tile in Erichshof, Medicus oder Charlatan

Rendigs, Erich

 

Mit dem Frachtfuhrwagen nach Leeste

Ein heißer Augusttag des Jahres 1790 neigt sich im alten Amt Syke seinem Ende zu –und mit ihm ein ebenso heißer Arbeitstag von zwölf- und mehrstündiger Dauer. Nur noch auf einem Felde zwischen Erichshof und Melchiorshausen, unmittelbar an der Heerstraße, die von Bremen in Richtung Syke-Nienburg und weiter über Hannover nach Süddeutschland führt, sind noch einige Männer, Frauen und Kinder mit Sensen und langzinkigen Holzhaken eifrigst bemüht, die Getreideernte zu bergen. Plötzlich erhebt sich ein etwa 12jähriger Junge , wirft seine Ausnehmerharke zur Seite und ruft freudigst erregt: “Modder, se koomt! Se koomt! Vadder un Krischan sind’r wedder!“ Uns so eilt er einem schwer beladenen, vierspännigen Leester Frachtfuhrwagen entgegen, der von weither – von Limburg an der Lahn kommend – Fracht für Bremer Kaufleute geladen hat. Freudestrahlend begrüßt er seinen Vater, den Bauern und Frachtfuhrfahrer Heinrich Voß, und Krischan, seinen ältesten Bruder, die beide neben dem Gespann einhergehen. Auch einen Fremden auf dem Kutschbock würdigt er eines freundlichen Grußes. Dieser hatte in Nienburg um Mitnahme gebeten – ein junger Mann, etwa um die Mitte der zwanziger Jahre. Rasch werden die ersten Neuigkeiten ausgetauscht, als auch schon die Pferde, denen man die Strapazen von der fast zweimonatigen Reise deutlich ansieht, nach einem kräftigen von Krischan lang ausgerufenen: Hault an, Jungs! …das schwere Fahrzeug vor dem etwa halb abgeernteten Feld auf der ungepflasterten Straße zum Stehen bringt.

 

Inzwischen hat die Bäuerin, Frau Voß, Feierabend geboten, die Gerätschaften unter einer Hocke versteckt und stellt dann nach einer kurzen, aber herzlichen Begrüßung den Korb mit dem notwendigen Geschirr zum Essen und Trinken unter die hochgewölbte Plane des Wagens. Ihr Mann lässt es sich indes nicht nehmen, mit anerkennenden Worten seiner Frau, den Kindern, Nachbarn und Verwandten viel Lob und Dank für die von ihnen während seiner langen Abwesenheit geleistete Arbeit zukommen zu lassen. Inzwischen hat Jan von seinem Bruder das Leitwerk übernommen, schwingt wie ein Fuhrmann laut knallend die Peitsche, ruft den Pferden aufmunternde Worte zu und führt sodann die kostbare Fracht dem heimischen Gehöft entgegen. Es war ihm deutlich anzusehen, daß er von dem sehnlichsten Wunsch beseelt war, sich einmal selbst in der großen Welt der Leester Frachtfuhrleute betätigen zu können.

 

Als nun am nächsten Morgen Heinrich Voß´und sein jüngster Sohn Jan sich mit der Fuhre auf dem Wege nach Bremen befanden, hatten bereits viele Erichshöfer erfahren, welche Bewandtnis es mit dem Fremden hatte, den Heinich Voß am Abend zuvor von „großer Fahrt“ mitgebracht hatte und von dem alle diejenigen, die ihn zu Gesicht bekamen, bzw. einige Worte mit ihm hatten wechseln können, seinen sehr sympathischen Eindruck gewonnen hatten. – Wer ahnte das schon, daß dieser junge Mann von 26 Jahren, der innerhalb kurzer Zeit auffallend rasch die Zuneigung der Erichshöfer und der Bewohner in den umliegenden Ortschaften gewann, für viele Jahre sein Domizil in Erichshof aufschlagen und im Lauf der Zeit noch manch ein Gemüt in Erregung versetzen sollte!

 

Dieser Fremde nannte sich Friedrich Gottlieb Tile – auch Thile, Tiele und Thiele geschrieben – und hatte, wie er sagte, in Berlin vier Jahre die „Wunderarzeney-Kunst“ erlernt. Also ein Chirurgus Medici, wie man zu damaliger Zeit sagte.

 

Alte Akten geben ihre Geheimnisse preis

Bevor Friedrich Tile und etliche andere Personen, die nun seinen weiteren beruflichen und persönlichen Werdegang maßgebend beeinflüssen sollten, zu Worte kommen, sei hierzu noch ein wichtiger Hinweis gestattet: Vor mir liegt ein etwa 50 Seiten umfassender, schon sehr vergilbter Aktenvorgang. Dieser hat sich in der Zeit von 1792 bis 1819 u.a. in den ehemaligen „Amtsvoigteyen Brinckum, Leeste und Weihe“ auf dem damaligen Königl. Großbritann. Hannoversch. Amt Sycke, ferner bei der Königl. Großbr. Hannoversch. Provincial-Regierung in Hannover in diesem Umfang angesammelt. Und nicht zu vergessen, die zahlreichen Schreiben, die aus der geübten Feder des Herrn „Medicus“ selbst stammen.

 

Zwei Jahre nach Ankunft in Erichshof, am 27. November 1792, schildert Friedrich Gottlieb Tile in einer an die Regierung gerichteten Eingabe seinen bisherigen Werdegang:

 

Ich bin 28 Jahre alt, der Sohn des in Kgl. Preußischen Diensten gestandenen Ober-Feld-Apothekers und Profeßors der Medicin Tile, gebürtig aus Bernau bey Berlin; habe die Wundarzeney-Kunst erlernt und bin, nachdem ich mich auf meinen Reisen in mehreren Ländern und großen Städten vorzüglich in der praktischen Chirurgie immer mehr und mehr zu vervollkommnen jederzeit eifrigst bemüht habe, in die hiesige Gegend gekommen, wo ich mich bereits gegen zwey Jahre in der Colonie Erichshof bei Brinckum aufhalte….“

 

Ärztliche Betreuung sehr im argen

Noch mehr erfahren wir aus einem Bericht des Syker Amtmanns an die Kgl. Landesregierung in Hannover. Danach war Tile gerade zu der Zeit in das Amt Syke gekommen, als es vor allem in den großen Kirchspielen Brinkum, Leeste und Weyhe um die ärztliche Betreuung der Bevölkerung sehr schlecht bestellt war. – Wenn auch in Leeste ein aus Alters- und Gesundheitsgründen pensionierter „Escadron Chirurgi“ namens Schwartz sich der gesundheitlichen Betreuung der Bevölkerung der drei großen Kirchengemeinden annahm, so war diese Tätigkeit doch nur von kurzer Dauer, da er schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit verstarb. Weiterhin ist aus diesem Schreiben zu entnehmen, daß um 1790 herum ein gewisser Erbenzinsmann Cramer in Erichshof die Tätigkeit eines Quacksalbers ausübte und dabei ein großes Vertrauen und sehr regen Zuspruch in der Bevölkerung fand. Dennoch wurde es ihm „bei ernster Strafe“ verboten, sich weiterhin als Kurpfuscher zu betätigen. Sicherlich wird die obere Behörde Grund gehabt haben, diese Maßnahme zu ergreifen.

 

Im weiteren Verlauf dieses Berichtes macht dessen Verfasser noch wichtige Angaben über den Lebenslauf unserer Hauptperson. Danach hat Tile, nachdem er gerade seine vierjährige Lehre bzw. Ausbildung abgeschlossen hatte, seinen Vater durch den Tod verloren. „Prozesse und Unglücksfälle“, so schreibt der Amtmann, hätten „die Rückgebliebenen in schlechte Umstände versetzt.“ Daraufhin habe sich Tile vorübergehend in Frankfurt an der Oder, in Breslau, Dresden und Wien aufgehalten, von wo er sich dann nach Preßburg begeben habe, wo er vier Jahre „in Condition (in Diensten) gestanden“, davon „1 ½ Jahre als Practicant“ in einem Hospitale. Aus Ungarn hätten ihn jedoch „Sterbefälle seiner Principale (Brotherren) mit Druck der Religion wieder entfernt.“ Danach sei er „bis Nienburg herumgeirrt“ und von dort mit Leester Frachtfuhrleuten bis Erichshof gereist. „Hier“, so heißt es wörtlich „habe ihn der vernommene Allgemeine Wunsch der Unterthanen, Rat und Hülfe bey zustoßenden Krankheiten in der Nähe zu haben, aufgehalten …“ (Protokollarische Angaben erfolgen oft in der 3. Person.)

 

Tile doch kein Medicus?

Zwei Jahre hatte nun Chirurgus Friedrich Gottlieb Tile seinen Beruf zu besten Zufriedenheit seiner Kranken und Ratbedürftigen in Erichshof wie auch in der näheren und weiteren Umgebung ausgeübt. Viel Lob und Anerkennungen waren ihm durch die Bevölkerung und auch durch die Behörden zuteil geworden. Aber dadurch, daß nun der Sohn des verstorbenen Militär-Chirurgen Schwartz, namens Johann Hinrich Schwartz, sich in Celle im Examen vor dem sogen. Collegium chirurgicum, einer damals für das Amt Syke zuständigen Gesundheitsbehörde, zur Führung einer chirurgischen Praxis in der Bauernschaft Leeste „gut exhibiert“, d.h. gut ausgezeichnet hatte, und ihm damit die ärztliche „Conceßion“erteilt wurde, entstand für Tile eine völlig neue und unerwartete Lage:

  1. Tile war nicht im Besitze irgendwelcher Dokumente, die seinen Beruf hätten ausweisen können.

  2. Tile war ohne „Conceßion“ zur Ausübung seines Berufes nach Erichshof gekommen.

  3. Für zwei „conceßionierte Medici chirurgi“ in einem Kirchspiel würde die Obrigkeit niemals ihre Zustimmung geben in Anbetracht der sehr schlechten Situation der gesundheitlichen Betreuung der ländlichen Bevölkerung.

Schon oft hatten die Behörden von Tile die erforderlichen Papiere erbeten; und jedesmal bescheinigte er ihnen „ex post“ (nachher), daß diese ihm abhanden gekommen seien. Immer wieder übte der Amtmann in Syke, oder wer es auch war, Nachsicht, konnten sie doch ihr entgegenkommendes Verhalten mit dem so oft bewiesenen Können und den zahlreichen Erfolgen dieses „Talente habenden Mannes“, wie der Amtmann selbst einmal schrieb, begründen.

 

Für Thile war jetzt der Zeitpunkt gekommen, sowohl in seinem Beruf als auch in seiner sozialen Stellung klarere Verhältnisse zu schaffen. Mit einem sorgfältig abgefaßten Gesuch wandte er sich an die Kgl. Regierung in Hannover mit der Bitte um Erteilung einer „Conceßion zur Ausübung einer medicinischen Praxis“. Mit Hilfe einer sehr gefälligen Handschrift und einer überaus gepflegten Ausdrucksweise verstand es Thile, sich gegenüber seiner ranghöchsten Behörde ausgezeichnet darzustellen. Nachstehend wiedergegebene Kostproben mögen dieses verdeutlichen:

 

„…Ich habe das Zutrauen vieler Eingesessenen des Königl. Churfürstl. Amts Sycke, denen es besonders in diesem Bezirke fast ganz an Chirurgischer Hülfe fehlet, durch meinen unverdroßenen Eifer, ihnen in meiner Chirurgischen Kunst nützlich zu werden, schon durch viele glückliche Heilungen befestigt, daß auch ihr Wunsch mit dem meinigen darin übereinstimmt, daß ich fidem fixam (festes Treueverhältnis) unter ihnen gewinne und durch Euer pp. gnädige Conceßion mir verstattet werden möge, als recipirter Chirugus (anerkannter Arzt) im Kgl. Churf. Amte Sycke die Chirurgie zu exerciren …“

 

Wenige Zeilen weiter schreibt er: 

„… Soll nach Hochdero gnädigen Willen derselben ein Examen Chirurgicum vorausgehen: so erkläre ich mich hiermit respectvollester Submission ( Demut), daß ich auch solches zu untergehen so schuldig, als bereit bin und darüber Hochdero Hohen Befehl und Anweisung erwarte…“

 

          Zum Schluß kommend, steigert er noch einmal seine Formulierungskunst:

          "„…Ich empfehle mein Gesuch zu einer gewierigen Resolution (Bescheid) und meine Person zu einer   

          gnädigen Protection (Unterstützung), indem ich mit ehrfurchtsvoller Verehrung ersterbe,

 

         Euer pp.

Unterthänigster

Friedrich Gottlieb Tile“

 

Behörden kommen Tile entgegen

Mit wärmster Empfehlung leitete der Amtmann in Syke das Gesuch an die Regierung weiter und erhielt bereits nach kurzer Zeit, am am 29. Nov. 1792, von dieser die Anweisung, „binnen 14 Tagen ein Gutachten zu weiterer Verordnung zu erstatten.“

 

Erst nach mehrmaligen Mahnungen antwortet das Amt am 19. Januar 1793. Die Erstellung des gewünschten Gutachtens muß der Syker Obrigkeit aus mancherlei Gründen äußerst schwer gefallen sein. Immer wieder ist sie geneigt, der Regierung gegenüber sich schützend vor den „Supplicanten“ zu stellen, wenn der Amtmann z.B. schreibt:

 

Sein Rath hat dem Amte mannichen Bewohner erhalten, seine uneigennützige Denkungs-Art ihn aber arm gelassen, wie er war. Seine Cur (erfolgreiche ärztliche Behandlung) eines noch kürzlich geholfenen Beurlaubten ließ ihm vom Regimente eine dem Supplicanten zu groß dünkende Bezahlung von zwei Gulden dankevoll zugehen; er aber überlieferte gleich die Hälfte des Geldes der in Wochen gekommenen und Verpflegung bedürftigen Frau eines inzwischen genesenen und zur Truppe zurückgekehrten Soldaten.“ – Weiterhin bittet der Amtmann die Regierung, man möge Tile – „der dem Amte so nützlich geworden“ – die Möglichkeit geben, für ein halbes Jahr am theoretischen Unterricht, dem sogen. „Collegio Chirugico“ zu Celle teilnehmen und ihn anschließend daselbst sein Examen ableisten zu lassen.

 

Wenige Monate später, am 28. April 1793, wurde dem „Chirurgo Gottlieb Tile zu Erichshof“ durch den Director Roques de Maumont des Königl. Großbrit. und Churfürstl. Brschw. Lünebg. Collegi eröffnet, am 13. Mai zum Examen zu erscheinen und vor dem „hohen Gremium“, bestehend aus dem Director, den Profeßores und Doctores, sein berühmtes medicinisches Können“ unter Beweis zu stellen.

 

Erst am 8. Mai erreichte das Schreiben den „Candidaten“. Da ihm jedoch die Zeitspanne zu kurz erschien und „Unpäßlichkeit und andere unvermeidliche Hindernisse eine Reise unmöglich machten“, bat er in einem sehr höflich gehaltenen Brief darum, den „Terminum Examinis“ noch auf vier Wochen weiter hinauszuschieben. – Die Behörden zeigten abermals großes Entgegenkommen, bis schließlich im Spätsommer 1793 die Prüfung erfolgen konnte.

 

Den Prüfungsanforderungen nicht gewachsen

Das Ergebnis teilte die Regierung umghend dem Amte mit. Es lautet:

 

Da der Chirurgus Tile aus Erichshof in dem bey dem Collegio Chirugico zu Celle mit ihm angestellten examine überall nicht in dem Maße bestanden ist, daß er zur Treibung der chirurgischen Praxis als gehörig qualificirt kann geachtet werden, so tragen Wir Bedenken, ihm die nachgesuchte Conceßion . sich als chirurgus in dortigem Amte zu besetzen, angedeyen zu lassen.“

 

Bedeutet dieses das Ende seiner so hoffnungsvoll angelaufenen medizinischen Laufbahn? Wie nun seine Familie ernähren? Er hatte im gleichen Jahr (1793) die Tochter eines Bauern und Erbzinsmannes (Erbhof gegen Zins) aus Erichshof geheiratet, mit der er, wie aus späteren Akten hervorgeht, im Lauf der Jahre neun Kinder hatte, von denen fünf am Leben blieben. Nun, bei seinen Freunden erfreute er sich weiterhin eines ausgezeichneten Ansehens; und auch die Vogteien zu Brinkum und Weyhe „connivirten“ mehr als erlaubt, d.h. sie drückten bei Zuwiderhandlungen gar manches Mal ein Auge zu und ließen es bei Verwarnungen gut sein.Was Tile eigentlich sehr kränken und seine weitere heimliche „Berufsaufübung“ erschweren sollte, war die Tatsache, daß er alsbald von den Behörden nicht mehr wie bisher als „Medicus“ oder als „Chirurgus“, sondern offiziell als Häusler Tile und, was noch viel erniedrigender war, sogar als Quacksalber. Pfuscher – ja, als Charlatan benannt wurde….

 

Auf dem Kirchhof an den Pranger gestellt

Einige Jahre gingen ins Land. Tile paßte sich den gegebenen Umständen weitgehend an, wobei er sicherlich nicht immer die ihm auferlegten Verhaltensmaßregeln beachtete. Auch hatte er nicht alle Tage das für die große Familie benötigte Brot auf dem Tisch, wie es in einer Akte heißt.

 

Schließlich war der Syker Obrigkeit aber doch einiges zu Ohren gekommen, was sich mit ihrem Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Gesundheit ihrer Untertanen nicht vertrug. Die Vogteien erhielten daher am 21. November 1803 strikte Anweisung, daß „von den Kirch Höfen zu Weyhe, Brinckum und Leeste, an zwei verschiedenen Sonntagen, Jedermann Kund gemacht wird, daß einem Friedrich Gottlieb Tiele zu Erichshof die nachgesuchte Conceßion zur Chirurgischen Praxis im Amt ausdrücklich versagt worden sei.“ – Früher war es üblich, an Sonntagen während des Gottesdienstes von der Kanzel herab die kirchlichen Bekanntmachungen zu verlesen und nach dem Gottesdienst vor der Kirchentür – also auf dem Kirchhof – die öffentlichen Bekanntmachungen ausrufen zu lassen. Allein schon aus diesem Grunde war es erforderlich, daß möglichst aus jeder Familie jemand am Gottesdienst teilnahm. Tageszeitungen wie heute gab es um die damalige Zeit noch nicht. – Umgehend wandte sich Tile an den Amtmann zu Syke und brachte die „Hertzliche Demüthige Bitte“ zum Ausdruck, auf den Kirchhöfen doch nicht an den Pranger gestellt zu werden. Dadurch würde er „Tödlich beleidigt“ – ebenso seine Frau und seine drei Kinder. Wörtlich heißt es in dem Bittschreiben dann weiter:

 

Wenn es mir noch nicht sollte erlaubet werden können, in hiesigen Amte Practiciren zu dürfen, so ersuche ich aller Unterthänigst mein Ehrenwort an zu nehmen; Daß ich mich deßen von nun an gäntzlich enthalten will. – Ich kann mein Wort um so eheder halten, da ich doch bisher aus dem Auslande meine Familie habe beraten müßen.“

 

Wie aus späteren Akten zu entnehmen ist, hatte Tile seine Tätigkeit mehr auf die Dörfer im nahen Oldenburgischen verlegt. Ob seine Bittschreiben Gehör fanden, das geht aus den Unterlagen nicht hervor; denn etliche Jahre war es um Tile wiederum sehr still geworden. Erst im Jahre 1806 wandte sich der Syker Amtmann in einem „Publicandum“ (Veröffentlichung) an die Bevölkerung „der gesamten 7 Spezialaten im Amt“, womit die sieben dem Amt Syke unterstellten Vogteien gemeint sind: Brinkum – Leeste – Weihe – Riede – Barrien – Nordwohlde und Heiligenfelde. Der Inhalt des Schreibens bezieht sich auf „Einen Charlatan F. G. Tile zu Ehrichshof“ und informiert uns über folgenden Sachverhalt:

 

Aufs neue dieses Charlatans Unfug in Erfahrung bringend, sind wir der Achtung für Jedermanns Gesundheit schuldig, durch das gegenwärtige von gesamten Kirch Höfen im Amte öffentlich Kund zu machende Publicandum zu des Publici Wißenschaft zu bringen“. (d.h. die Bevölkerung zu informieren)…Wegen der fehlenden Kenntnisse des Tile sei es erforderlich , diesem „jede Ausübung der Chirurgischen oder Ärtzlichen Hülfe bey Strafe zu verbieten.“ „Zudem sollten die Amtsvoigte weitere „Contraventions-Fälle „, d.h. Übertretungen von Gesetzen, genauestens registrieren. – Zugleich wird im letzten Teil des Publicandum daran erinnert, schärfer auf die „hausirenden Betrüger, welche in allen Spezialaten des Amts als sobenannte Hallische-Medicin-Händler Artznei zum Verkaufe anbieten“, zu achten.

 

Nicht uninteressant ist eine Notiz am Rande dieses erhalten gebliebenen Dokuments, die uns einen kleinen Einblick in die interne Verwaltungsarbeit in der Amtsstube zu Syke gestattet. Der Vermerk lautet: „7mahl zu Mundiren“, d.h. der Amtsschreiber erhält den Auftrag, diesen Brief siebenmal abzuschreiben.

 

Landphysicus Dr.Caspari geht zum Angriff über

Ob das Publicandum sich als wirksam erwies, vermag man aus den Akten nicht zu entnehmen. Wiederum schweigen sie sich aus, diesmal sogar wesentlich länger – 11 lange Jahre! Damals erlebte Deutschland nämlich eine der unruhigsten Epochen seiner Geschichte: Napoleon Bonaparte gab der politischen Landkarte ein völlig verändertes Aussehen. Auch Deutschland geriet mit seinen vielen Kleinstaaten – 300 (!) ab der Zahl – in den Sog dieser vielfältigen, einschneidenden Veränderungen. Uns somit ist von einem Friedrich Gottlieb Tile in dieser Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen, der politischen Wirren und des wirtschaftlichen Niedergangs keine Rede mehr. Wie er sich und seine siebenköpfige Familie am Leben erhielt, das entzieht sich unserer Kenntnis. Anzunehmen ist jedoch, daß er seinem „Beruf“ weiterhin nachging. Wer sollte ihn auch in solchen Zeiten daran hindern? Erst im Jahr 1817, als überall wieder ordnende Kräfte in Deutschland tätig geworden waren, nehmen die Akten den Faden wieder auf. So richtete der Landphysicus ‚Dr. Caspari aus Bassum – ein von der Obrigkeit eingestellter Amtsarzt – an das damalige Königliche Amt zu Syke ein Schreiben folgenden Inhalts:

 

Da ein gewisser Thiele, wohnhaft zur Colonie Erichshof, schon seit längerer Zeit bey innerlichen und äußerlichen Kranken sein Unwesen auf die ausgedehnteste und ungebundenste Art treibt und auch neben seinen medicinischen Rathserteilungen Medicamente selbst dispensirt (=zubereiten u. aushändigen), so halte ich es für eine Pflicht, das Königliche Amt auf diesen gefährlichen Menschen aufmerksam zu machen. Als ein dem Trunke leidenschaftlich ergebener Mensch kann dieser Pfuscher auf doppelte Art, nämlich theils durch seine verkehrten Rathserteilungen beym Krranken selbst, teils aber auch wieder durch ein gewiß oft ganz widersinniges Verfertigen und Darreichen der Arzneymittel schaden, wodurch gewiß oft ein unberechenbarer Nachtheil der leidenden Menschheit zugefügt wird. Diese Umstände veranlassen mich daher, das Königliche Amt Syke gehorsamst zu ersuchen, den genannten Thiele durch die Strenge der Gesetze von allen ferneren Quacksalberyen abzuhalten und seinen Vorrath von Medicamenten, welche zu untersuchen ich gerne bereit bin, confisciren und zerstöhren zu lassen.

 

Mit der größten Hochachtung habe ich die Ehre mich gehorsamst zu empfehlen.

C. Caspari Dr.

Landphysicus

 

Das kam einer gerichtlichen Anklage gleich. Sollte sie dem jetzt schon 24 Jahre anhaltenden Kesseltreiben gegen Tile endgültig zu Erfolge verhelfen?

 

Zunächst übertrug der Amtmann in Syke dem Vogt in Brinkum einige strikt durchzuführende Amts-Aufgaben. So solle dieser u.a. „unerwartet bey gedachten Tiele visitiren“, die vorhandenen Medicamente einziehen und ihn „jede innere und äußere Cur an Menschen untersagen.“Auch bittet er um einzelne Angaben zu dessen Person, insbesondere aber über den gegenwärtigen Aufenthalt.

 

Die Antwort des Brinkumer Vogts ging bereits nach wenigen Tagen ein und fiel keinesweg zu ungunsten Tiles aus - im Gegenteil, sie gibt deutlich zu erkennen, daß die unterste Behörde Tile – aus welchen Gründen auch immer – keinen Schaden zufügen wollte. So berichtete der Vogt, die „Häusliche Rechtlichkeit“ sei unverkennbar. Der Bezug von „Arzeney“ erfolge von den nahen „Apothecken“ auf der Basis des Vertrauens, wie es den damaligen Gepflogenheiten entsprach. – Eine zur Abendzeit stattgefundene Visitation habe lediglich eine kleine Schachtel mit einem Rest Magnesia ergeben. Über die Praxis äußert sich der Vogt dahingehend, diese sei lediglich auf das „Ausland“ beschränkt, wozu – wie schon erwähnt – auch Oldenburg gehörte, dessen Untertanen Tile sogar sehr gern aufsuchten, so dalß es ihn nicht schwerfalle, dem Verbot Folge zu leisten …“Und wo die Minute entscheiden mußte“, heißt es am Schlusse des Berichts, habe Tile „kranken Menschen freundlich zugesprungen, wofür ihm auch Bemerkung, selbst Amtsbelohnung“ zuteil geworden sei. Danach aber habe der den Patienten „der Fürsorge des conceßionirten Arztes übergeben….“

 

Soweit der Bericht des Vogts zu Brinkum. – Alles in allem, das aufgefahrene Geschutz des Dr. Caspari sollte sich als wenig erfolgversprechend erweisen.

 

25 Jahre Behördenkrieg gegen Tile

¼ Jahrhundert währte nun schon der Behördenkrieg gegen den „Medicus“ alias „Charlatan Tile“. In all den vergangenen Jahren hatte man es bei Verwarnungen, Ankündigungen auf Friedhöfen, Strafandrohungen und vereinzelt durchgeführten Visitationen seiner Praxis bewenden lassen. Seine vielgepriesene Geschicklichkeit ausnutzend, gelang es ihm jedoch, sich immer wieder herauszureden. Jetzt aber wollte die mittlere Obrigkeit – das Amt Syke – endgültig klare Verhältnisse schaffen. Sie fuhr daher ein schwereres Geschütz auf. Und das war im Jahr 1819. Tile war inzwischen 54 Jahre alt geworden. - In einer besonderen, 27 Seiten langen Akte des Amtes Syke hat der Amtmann eine schwerwiegenden Vorgang festgehalten. Sie trägt den Titel „Akta denunciationis wider den Häusler Friedrich Gottlieb Thiele aus Ehrichshof wegen gesetzwidriger Quacksalberei“ und beginnt mit der Wiedergabe eines Berichts des damaligen Landphysicus Dr. Buchhorst zu Bassum, der wahrscheinlich der Nachfolger von Dr. Caspari war, an das Königliche Amt Syke vom 2. Februar 1819.

 

Landphysicus Dr. Buchhorst fährt schwereres Geschütz auf

In dieser Eingabe greift der Amtsarzt einen besonderes schweren Fehler „von medicinischer Pfuscherey und unerlaubter Chur des Einwohners Thiele zu Leeste“ auf, „den derselbe schwerlich wird abläugnen können.“ Wie er mittteilt, litten der Grobschmied J. Sch., dessen Frau, Schwager und zwei seiner acht Kinder an Syphilis. Wegen des „viel gelobten Könnens des Tile“ wandte sich Sch. hilfesuchend und vertrauensvoll an ihn. Mit vielen Medicamenten versuchte dieser nun ¾ Jahre lang, die Erkrankten von diesem furchtbaren Leiden zu befreien. Leider mußte J. Sch. nach langem Hoffen die traurige Erfahrung machen, nachdem ihm Tile 12 Thaler für seine Bemühungen abgenommen hatte, daß dieser nicht die erforderlichen medizinischen Kenntnisse besaß. Somit verschlimmerte sich zusehends das Leiden der Kranken, „daß nicht nur der schreckliche Anblick alle Menschen aus der Umgebung des J. Sch. verscheuchte und ihn dadurch brotlos machte, sondern ihn und seine unglückliche Familie bald dem Tode nahebrachte.“ …

 

Während Sch. und dessen Schwager nach Übernahme der Behandlung durch Dr. Buchhorst alsbald wiederhergestellt waren, mußten Frau und Kinder noch lange die Folgen dieses so tief verwurzelten Übels erleiden. – Weiterhin berichtet der Amtsarzt: „Thiele ist bei seiner Dreistigkeit und Frechheit, mit der er Dinge unternimmt, die er nicht versteht, um so gefährlicher:

  1. Weil er selbst dispensirt únd so bei seiner Unkunde der Arzneyen und Krankheiten Mittel geben kann, die wirklich tödten.

  2. Weil er, wie ich erfahren, dem Trunk ergeben ist.

  3. Weil kleine Warnungen an ihn nicht zu helfen scheinen, indem er schon vor mehreren Jahren auf dem Amt Freudenberg inhaftirt gewesen, auch verschiedentlich vom Amt Sycke gewarnt, er also das Sträfliche seiner Handlung kennt.“

Am Schluß dieses Schreibens stellt Dr. Buchhorst den Antrag, Tile „exemplarisch“ zu bestrafen.

 

Strenge Vernehmung

Der Amtmann Albrecht in Syke muß beim Lesen dieses Berichts, der bereits am nächsten Tag bei ihm einging, gehörig in Harnisch geraten sein. Umgehend traf er entsprechende Anordnungen, d.h. er beorderte Tile, den Einwohner Joh. Sch. und dessen Schwager auf den 16. Februar 1819, morgens 10 Uhr, „bei Strafe des Holens“ auf die Amtsstube zu Syke.

 

Hier erfolgte in getrennter Reihenfolge eine strenge Vernehmung durch Amtmann Albrecht persönlich, den höchsten Gerichtsherrn im damaligen Amte Syke. Bereits nach kurzer Befragung des „Comparenten Thiele“, d.h. des Vorgeladenen, überraschte dieser die Anwesenden mit Aussagen über seinen beruflichen Werdegang, wie es bisher noch niemand aus seinem Munde oder seinen schriftlichen Äußerungen erfahren hatte. So gab Tile, über seine Herkunft und die Zeit befragt, bevor er nach Erichshof kam, folgendes zu Protokoll:

 

Er heiße Friedrich Gottlieb Thiele, wohne als Häusler zu Erichshof. Sey 59 Jahr alt und aus Bernau bei Berlin gebürtig, woselbst sein Vater Apothecker und Senator gewesen sey. Ungefähr in seinem zwölften Lebensjahr sey er nach Berlin gekommen, wo er auch confirmirt sey und sich nachher als Barbiergeselle ernährt und dabei sich der Chirurgie befleißigt habe. – Zeugniße darüber habe er nicht, außer einer gedruckten Kundschaft seines ehemaligen Herrn, die er aber nicht bey sich habe. Ungefähr 21 Jahre alt, habe er als reisender Barbiergeselle Berlin verlaßen, darauf einen großen Teil Deutschlands, auch Ungarn durchreiset und nach mancherlei Schicksalen beschloßen, sich im Hafen von Bremen nach America einzuschiffen. In Bremen habe es dazu nicht kommen können, worauf er in Leeste seine jetzige Frau geheirathet und auf diese Weise zu Leeste ansässig geworden…[...] Er sey zu Celle examinirt, habe danach zum Bescheide erhalten, daß er sich dort erst ein halbes Jahr aufhalten und perfectioniren solle, welches er aber aus Geldmangel nicht hatte ausführen können.“

 

Wenige Zeilen weiter heißt es dann:

 

Bereits seit 28 Jahren sey er nun zu Leeste und ernähre sich durch Barbieren, Zahn-ausziehen, Aderlaße und Curiren von Pferden. – Das Curiren von Menschen thue er wohl zugeben, aber immer nur, wenn sonst keine ärztliche Hülfe zu haben sey. Auch habe er nur mit Vorsicht anzuwendende Medica-mente verordnet, so wenig wie andere gefährliche Sachen. Er habe Mixtur zum Schweißtreiben gegeben, ferner Pulver von Magnesia und Schwefel. Er werde sich wohl hüten, dergleichen gefährliche Sachen wie Mercurius zu verordnen.“

 

Brotererb auf Kosten des Lebens anderer

Als Amtmann Albrecht ihn im Verhör befragte, woher er seine Medicamente bekomme, entgegnete er, „diese habe er sämtlich von dem Apothecker Goede in der Hirschapothecke zu Bremen, auf der langen Straße, bezogen, zu dem er wöchentlich eine Person des Vertrauens geschickt habe, die ihm von dort vornehmlich Magnesia, Glaubersalz, Schwefelblumen und Brustthee mitgebracht habe.“

 

Sodann erfuhr Amtmann Albrecht erstmalig, daß Tile auch schon wegen seiner polizei-widrigen Quackslberei vor etwa einem Jahr beim Amte Freundenberg in Untersuchungs-haft sich befunden habe und danach – trotz strengen Verbots – weiterpraktizierte. Tile begründete dieses Verhalten damit, „daß ihn die Not dazu treibe. Er habe fünf Kinder, und seine Frau würde ihm bald das sechste Kind geben. Er sey Häusler, habe weder Land noch sonstiges Vermögen, verstehe keine Bauern-arbeit und müßte daher zum xxxx seine Zuflucht nehmen. Ihn treibe bloße Brodnoth dazu.“ …“Und das auf Kosten der Gesundheit und des Lebens anderer Menschen“, beendete der Amtmann die Vernehmung des geständi-gen „Comparenten“ …und ließ den „Quacksal-ber Thiele kurzerhand inhaftieren.

 

Als nächster wurde der Brinksitzer und Grobschmied Sch. vernommen. Dieser hatte sich, als die böswillige Krankheit immer schlimmere Folgen annahm, in seiner Not an Tile gewandt, der ihn neun Monate lang behandelte – aber ohne Erfolg. Die Vernehmung ergab, daß etliche seiner Aussagen keineswegs mit denen Tiles übereinstimmten. „So habe dieser viele Medicamente verordnet, u.a. haber er auch mehrere Gläser mit Mercurius gehabt. Und soviel er wiße, bereite Tile seine Arzeneyen auch selber zu. Trotz der verschiedenartigsten Medicinen sei nach und nach seine ganze Familie von der Krankheit befallen worden und in den traurigsten Zustand geraten. Tile habe ihnen immer guten Muth zugesprochen und sich gerühmt, daß, wenn er nicht helfen könne, so werde es niemand auf der Welt können ….Zu seinem und seiner Angehörigen großen Glücke seyen sie endlich in die Hände des geschulten Doctors Buchhorst zu Baßum gekommen, der sie jetzt beinahe alle wiederhergestellt habe.“

 

Die von Amtmann Albrecht inzwischen angeordnete Haussuchung in der Tile’schen Wohnung wurde bereits nach kürzester Zeit von dem Amtsvogt durchgeführt. Dabei hatte diesem der Leester Bauermeister behördliche Amtshilfe zu leisten. Letzterer wird in den Akten nicht namentlich genannt, wohl aber, daß er der „leibliche Bruder der Tile’schen Ehefrau“ war und daß er „ganz seinem als Bauermeister geleisteten Eyd Treu nachkam.“

 

Der Erfolg der Hausdurchsuchung war gerade nicht belastend. Je ein Glas mit Glaubersalz bzw. ¾ Pfund Schwefelblumen, zwei Schachteln mit Magnesia – ungefähr zwei Loth (33 1/3 g), einige leere Medizingläser und Salbenkruken, ferner „ein Glaiß mit etlichen Blutegeln“ – wie der Amtsvogt zu Leeste in seinem Bericht es festgehalten hat. – Nach der erfolgten Hausdurchsuchung wurde nach eintägiger Haft der „Denunciat (Angeklagter) Thiele unter der ausdrücklichen Bedingung einstweilen aus seiner Haft entlassen, daß er sich hinfüro alles und jedes Curirens, Dispensirens von Medicinen, Recepte-Schreibens und sonstigen Quacksalberns gänzlich und durchaus enthalte und zwar bey Vermeidung sonst gegen ihn eintretender strenger Leibesstrafen“, was soviel wie Zuchthaus bedeutete.

 

Richtspruch der obersten Behörde in Hannover

Das war eine harte Sprache. Aber sie sollte noch härter werden – nur, daß sie nicht aus dem Munde des Syker Amtsmann Albrecht kam, sondern von der Königl. Großbritannisch-Hannoverschen Provinzial-Regierung. Noch am gleichen Tage als die Vernehmung beendet war, sandte der Syker Amtmann sämtliche den Fall „Quacksalber Friedrich Gottlieb Thiele zu Ehrichshof“ betreffenden Originalakten nach Hannover und überließ damit seiner vorgesetzten Obrigkeit in deren Verantwortlichkeit die endgültige Regelung. Albrecht war sich seiner Sache – und das war nicht das erste Mal – wohl nicht genügend sicher, um von Tiles alleiniger Schuld überzeugt zu sein. …

 

Bis zur Verkündung des zu erwartenden Strafmaßes blieb Tile auf freiem Fuß, wobei er sich streng nach den ihm von Amtmann Albrecht auferlegten Verhaltensregeln zu richten hatte. – Als nach etwa zwei Wochen die am 9. März 1819 ausgefertigte Anordnung der Provinzial-Regierung zu Hannover im Amt Syke eintraf, wurde Tile umgehend dorthin zitiert. Hier eröffnete ihm der Amtmann den Inhalt des amtlichen „Rescripts“ (Befehlsschreiben einer höheren an eine untere Behörde). Es lautet u.a.:

 

Da aus den hierbei zurückerfolgenden Untersuchungs-Acten sich ergiebt, daß der Häusler Friedrich Gottlieb Thiele zu Ehrichshof, ungeachtet ausdrücklicher, ihm gewordener Gebote, den Landesgesetzen entgegen, fortfahre, ärztliche Quacksalberey zu treiben und durch dieselbe eine Familie in große Leiden und Gefahren kam, so ist derselbe einer 14tägigen Gefäntgnißstrafe zu unterziehen, zu deren Vollziehung Wir hiermit dem Königlichen Amt den Auftrag ertheilen, welches diese erlittene Bestrafung des Thiele in den Hannoverschen Anzeigen bekannt zu machen hat. Dem Häusler Thiele ist nach überstandener Gefängnisstrafe ad protocollum bekannt zu machen, daß, wenn er ferner einer ärztlichen oder chirurgischen Pfuscherei sich schuldig macht, eine Zuchthausstrafe unausbleiblich gegen ihn werde erkannt werden.“

 

Unmittelbar nach Verlesung des Rescripts beendete der Amtmann das darüber angefertigte Protokoll mit den Worten: „Somit ist gedachter Thiele in’s Gefängnis geführt, und dem Pförtner ‚Ackermann die gründliche Vollziehung empfohlen.

 

Actum ut supra (wie oben angegeben)

In fidem (zur Beglaubigung)

(gez.) FAH Albrecht

 

14 Tage lang kam letzterer nun seinem dienstlichen Auftrag gegenüber dem Häftling Tile pflichtgetreu und gründlich nach. Sodann öffneten sich am 5. April 1819 für den einstigen Herrn Medicus und überführten Quacksalber und Charlatan, Comparenten und Häftling – den Häusling Friedrich Gottlieb Thiele – wieder die Tore des Syker Amtsgefängnisses.

 

Mit seinem in Leinen geschnürten kargen Ranzen begab er sich auf den Heimweg nach Leeste. Ein geschlagener Mann, dem das Schicksal arg mitgespielt hatte, der aber auch selber das Schicksal nur zu oft herausgefordert hatte. Dieses Schicksal wollte es nun, daß der aus dem Gefängnis entlassene wieder denselben Weg benutzen sollte, auf dem er vor 30 Jahren mit dem Leester Bauern und Frachtfahrer Heinrich Voß gekommen war. Und während Tile müde und verdrossen – wiederum einer ungewissen Zukunft entgegen – heimwärts wanderte, begegnete er manch einem Bekannten, dem er im Laufe der Jahre in dessen Not hilfreich zur Seite gestanden hatte und der ihn jetzt – in seiner Not – mit einem dankenden und wohltuenden Gruß erfreute. Andere dagegen – bei weitem aber in der Minderheit – wandten ihm den Rücken zu….Sodann griff der eine und der andere zur Linken und Rechten der noch immer ungepflasterten Straße wieder in den umgehängten Leinensack und streute neue Saat in den vorbereiteten Acker – in der Hoffnung: Möge jedes Korn einen gesunden Keim hervorbringen und somit zu einer guten Ernte führen…..

 

Spuren in die Vergangenheit

Anlässlich des Jubiläums des Schützenvereins Sudweyhe e.V.

Als im Jahre 1960 die damaligen beiden Gemeinden Kirch- und Sudweyhe ihre 1100-Jahrfeier begingen, wird den Teilnehmern kaum bewußt gewesen sein, wie rasch die nächsten 2 Jahrzehnte dahingehen würden. 20 Jahre - eine lange Zeit! Ein fünftel Jahrhundert! So wollte uns scheinen. - Nun, die Jahre fuhren dahin. Als flogen sie davon und »segneten« uns in ihrem Fluge mit vorher kaum vorstelibaren Wandlungen. Sie gaben rasch, sie gaben doppelt. Ob wir indes alles zu bewältigen vermochten, danach fragte die Entwicklung nicht. Aber verharren wir noch eine Weile bei jener Jubiläumsfeier, die uns ins Jahr 860 n. Chr. zurückführt, und laßt uns aufhorchen. wenn die älteste noch vorhandene Urkunde zu uns spricht. Aus ihr vernehmen wir, daß ein krankes Mädchen im Jahre 860 n. Chr. aus »Wege villa publico«, also aus ››Wege« (später Weyge oder auch Weigeri), einem bekannten Ort, im Bremer Dom Heilung von seinem Leiden suchte.

 

Dieses Dokument gibt uns lediglich Auskunft darüber, daß beide Siedlungen, die zeitweise u.a. die Bezeichnung Z(S)utweyge bzw. Kerkweyge führten, bereits 1100 Jahre bestanden - nicht aber, wie alt sie an sich sind. In Wirklichkeit haben sie ein viel, viel höheres Alter. Den Beweis dafür liefern uns die vielen, 2. T. hochbedeutenden vorgeschichtlichen Funde. Diese beginnen stets dann zu ››sprechen«, sobald die schriftlichen Aufzeichnungen versiegen. Dann tritt an ihre Stelle der Boden, die Heimstatt all unserer Daseinsformen, und gibt Aufschluß über das ungefähre Alter unseres engeren Siedlungsraumes. Da sei z.B. auf die im Jahre 1955 bei Ausschachtungsarbeiten am Westrande des Ellernbruches gefundenen römischen Schalen, Terrinen und Kannen hingewiesen, die in der internationalen Fachwelt einen hohen Stellenwert einnehmen und eindeutig zu erkennen geben, daß bereits im 3. Jahrh. n. Chr. in unserem heimatlichen Raum größere und kleinere Siedlungen vorhanden waren.

 

Schauen wir uns sodann in den Jeebeler Fuhren um. Dort können wir - wenn auch etwas versteckt - restliche 3 Hügelgräber entdecken. Es sind Ruhestätten unserer Vorfahren, die hier schon einige Jahrhunderte vor Chr. Geb. in festen Siedlungen lebten. Und eine wahre Fundgrube für Beweise zur Klärung unserer vorgeschichtlichen Vergangenheit sind die beiden Kiesgruben an der Weser in der Nähe von Dreye und Arsten. Hier wurden in den vergangenen Jahren nicht nur Fossilien von längst ausgestorbenen eiszeitlichen Großtieren, wie Mammut, Elch, Riesenhirsch etc. gefunden, die ein Alter von 10000 bis 60000 Jahren aufzuweisen haben, sondern auch Steinwerkzeuge und Gebrauchsgegenstände, dazu menschliche Skeletteile, insbesondere Schädelkalotten, die von Menschen aus der Jungsteinzeit stammen - also etwa 3000 bis 5000 Jahre alt sind. - Alles in allem: Unser Siedlungsraum ist auf uraltem Kulturboden gewachsen.

 

Bevor wir nun versuchen, die Vergangenheit des Sudweyher Schiitzenwesens näher ins Blickfeld zu rücken, sollten wir aus Gründen des besseren Verständnisses noch einige wenige Aussagen machen über die Herkunft des Ortsnamens Sudweyhe in Verbindung mit dem Namen Kirchweyhe. ~ Wie bereits erwähnt, führten in den ersten Jahrhunderten sowohl die diesseits als auch die jenseits der Hache liegenden Siedlungen den gemeinsamen Namen Weyge. Weye, Weigeri u.ä. Der genaue Zeitpunkt der Trennung ist unbekannt. Die älteste Urkunde, die hierüber Auskunft zu geben vermag. besagt lediglich, daß die beiden Orte schon im Jahre 1300 n. Chr. selbständig gewesen sind. Es ist aber durchaus möglich, daß die Trennung bereits zwischen 1200 und 1250 n. Chr. erfolgt ist; denn um diese Zeit - wahrscheinlich gegen 1230 - wurde die Weyher Kirche erstmalig als Backsteinkirche errichtet, wovon der Turm ja noch erhalten ist. Man darf wohl ohne weiteres annehmen. daß mit dem Bau einer festen Kirche auch die Trennung in zwei selbständige Verwaltungsbereiche - in Z(S)utweyge und Kerkweyge o.ä. - vollzogen worden ist. Über 700 Jahre haben diese beiden Gemeinden gutnachbarlich nebeneinander gelebt; davon etwa 600 Jahre lang bei gleichbleibender Größenordnung, bis der Bau der Eisenbahn durch das Gebiet der Gemeinde Kirchweyhe vor gut 100 Jahren deren Entwicklungstempo auffallend beschleunigte.

 

Wie die Aufhellung der Sudweyher Vorgeschichte die Anwendung verschiedener Hilfsmittel erforderlich macht, so ähnlich verhält es sich bei dem Bemühen, Licht in den Beginn des Sudweyher Schützenwesens zu bringen. Die unmittelbaren Quellen, die über dessen Anfang bzw. über das Vereinsleben in den folgenden 50 Jahren uns exakte Angaben vermitteln, versiegen schon nach 7 Jahrzehnten. Ein mit viel Liebe und lückenlos geführtes Protokollbuch sagt deutlich, daß der Schützenverein im Jahre 1930 gegründet worden ist. Auf diese Tatsache gründet sich das 50jährige Jubiläum. Damit ist aber keineswegs gesagt, daß das Schützenwesen in Sudweyhe erst im Jahre 1930 seinen Anfang genommen hat. 22 Jahre zuvor. es war 1908. da wurde im Ortsteil Ahausen ein Schützenverein gegründet. Nach Eintragungen in der Ahauser Schulchronik zählte dieser Verein zu Beginn des ersten Weltkrieges 50 Mitglieder, von denen die meisten in den benachbarten Dörfern wohnten - vornehmlich in Sudweyhe, Dreye und Riede. sogar in Bollen (jenseits cler Weser) und Thedinghausen. Der dazu erforderliche Schießstand wurde sogleich nach der Gründung erstellt. Er befand sich auf Böschen Grundstück unmittelbar an der Landesstraße. Daß das s. Zt. nur wenige Einwohner zählende Dorf Ahausen mehr als stolz war auf ››seinen« Verein, das ist nur zu verständlich. sah es doch in dem intensiven Wirken seiner Bewohner für den Schützenverein einen Maßstab für die Pflege des Heimatbewußtseins. der Vaterlandsliebe wie auch der Wehrbereitschaft - ganz dem Zeitgeist vor und während des ersten Weltkrieges entsprechend.

 

Leider waren dem Ahauser Schützenverein nur wenige Lebensjahre beschieden. Lassen wir die Chronik selbst sprechen:

»Als jedoch in Kirchweyhe und Riede je ein Schützenverein gegründet wurde, da schwand das Interesse der dortigen Schützen immer mehr für den hiesigen Verein und die Zahl der Miglieder wurde geringer. Nach dem Kriege war die Mitgliederzahl auf 34 gesunken. Bei Schießübungen gelegentlich der festlichen Veranstaltungen erschienen nicht alle auswärtigen Mitglieder. Die Teilnahme am Schießen wurde immer geringer. da der Einzelschuß manchem zu teuer war. Der Beitrag betrug auch nach dem Kriege nur noch 5,- M, Eintrittsgebühr 6.- M. Eine Erhöhung des Beitrages wagte man nicht, da man befürchtete, daß dann noch mehr Mitglieder ihren Austritt erklären würden. Da aber an dem Schießstande notwendige Ausbesserungen vorgenommen werden mußten und in der Vereinskasse nicht mehr die erforderlichen Barmittel vorhanden waren. so ist in der diesjährigen außerordentlichen Generalversammlung beschlossen worden, einstweilen keine Schießübungen und Festlichkeiten vorzunehmen, sondern zu warten, bis bessere Zeiten kämen. Von der Einziehung des Beitrages will man während der »Schlummerzeit des Vereins« Abstand nehmen. An Landwirt Büsche, auf dessen Grundstück sich der Schießstand befindet, wurden Umzäunung und Bretter für 2.000.- Mark verkauft. Bösche übernimmt dazu die Schulden des Vereins. An Pachtgeld erhielt Bösche jährlich 13O,- Mark. davon zahlte der Vereinswirt Lehmkuhl, der die Grasnutzung auf dem Schießplatze hatte, 65,» Mark.

Eingetragen am 24. November 1922 A.«

 

Damit war das Ende des Ahauser Schützenvereins besiegelt. Das soll uns aber auf dem Wege nach weiterem vordringen in die Vergangenheit des Sudweyher Schützenwesens nicht entmutigen. - Vor mir liegt eine alte Karte aus dem Jahre 1753. Sie ist zerschlissen, vergilbt und schwer lesbar. Daher wurde sie durchgepaust und für die weitere Verwendung kartengetreu restauriert. Sie ist Bestandteil dieses Beitrages und stellt ein wichtiges Beweismittel dar für die Feststellung, daß auch das Sudweyher Schützenwesen eine sehr weit zurückreichende Vergangenheit aufzuweisen hat.

 

ln dem hier wiedergegebenen Kartenausschnitt fällt uns sogleich eine fremdländisch klingende Bezeichnung auf: Papagoyenweg. Papagoye ist das italienische Wort für Papagei. Wie dieses Wort sich in dem deutschen Sprachschatz eingebürgert hat, ist unbekannt. Der Papagei wurde im Mittelalter als hölzerner Vogel von einer hohen Stange, dem Papagoyenboom, zunächst mit Pfeil und Bogen, dann mit der Armbrust und später mit dem »Feuerrohr« heruntergeschossen. Diese Art des Schießens stand am Beginn des Schießens überhaupt und war in vielen Flecken, Städten und Dörfern unserer niedersächsischen Heimat Kernpunkt eines regelmäßigen Waffendienstes. Die älteste Nachricht hierüber geht aus einer Urkunde des Jahres 1279 der Stadt Goslar hervor. Aber auch Verden. Harpstedt, Wildeshausen, Bücken und andere Orte besitzen Dokumente, aus de- nen zu entnehmen ist, daß dort bereits im 14. Jahrh. jeweils eine Schützengllde, eine Art Bürgerbewaffnung, bestand. ln Bremen gibt es in der Neustadt eine Straßenbezeichnung ››Papagoyenboom« und erinnert damit an das Vorhandensein eines ehemaligen Schützenplatzes an dieser Stelle.

 

Am Anfang des 17. Jahrh. geht man dazu über, nicht mehr auf den Papagei, sondern aut die Schützenscheibe zu schießen. wie es gegenwärtig - wenn auch in modernisierter Form - gehandhabt wird, was nicht ausschließt, daß heute noch in diesen oder jenen Orten nach einem Vogel - wie z. B. in Diepholz nach einem Adler – geschossen wird.

 

Hatte nun jemand Glück, den Papagoyen abzuschießen und damit aus dem Königsschießen als Sieger hervorzugehen, dann waren ihm bestimmte Königsrechte und Geschenke dieser und jener Art sicher - z.B. »halve tunne Bremer ber« oder 1 Rohr oder Bogen, auch eine halbe Eile schwarzes englisches Gewand. Ln vielen Fällen wurde ihm sogar für ein Jahr der Zehnte erlassen u.a. m. Noch heute schmückt in einigen Orten unserer näheren Heimat die sogen. silberne Papagoye als altes Wahrzeichen des Papagoyen~Schießens vor 400 - 500 Jahren die schwere Königskette - wie in Diepholz, Bücken und anderswo.

 

Schauen wir uns jetzt die Karte von l753 an und vergleichen sie mit der aus dem Jahre 1975, dann erkennen wir deutlich den Grad der Wandlung unserer dörflichen Siedlung irn Laufe der letzten 200 Jahre. Hauptverkehrsweg war damals der Weg an der Beeke entlang - Achter de Beeke, wie es heute heißt. Die jetzige Dorfstraße wurde erst im Jahre 1820 angelegt und 50 Jahre später mit Kopfsteinpfiaster ausgebaut. - Viel wichtiger für unser Anliegen ist aber die Bezeichnung eines Weges am südlichen Dorfrand entlang - der Papagoyenweg. Sudweyhe ist eine der wenigen Ortschaften in der weiteren Umgebung. in der eine auf der Karte wiedergegebene Wege- bzw. Flurbezeichnung ganz eindeutig darauf hinweist, daß an dieser Stelle - auf dem heutigen Sudweyher Geesttelci ~ bereits vor mindestens 400 bis 500 Jahren Sudweyher Bürger den Gebrauch der Armbrust bzw. des Feuerrohres übten. Und das nicht allein. Sicherlich hat man sich an dieser Stelle - wie in anderen Orten auch, nur daß es dort urkundlich belegt ist ~ alljährlich in den ersten Maitagen zu einem großen Volksfest eingefunden, einem Überbleibsel der uralten Maifeste, wo man mit dem »Maigrafen« den Frühling einholte.

 

Wenn sich die Formen der festlichen Zusammenkünfte auch im Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben und die Zeit mit ihren vielen Generationen so manches von unserem Brauchtum zugedeckt hat. geblieben ist - über gute und schlechte Zeiten hinweg, über Krieg und Frieden, über Freude und Leid - die alles verbindende Kraft: die Liebe zu unserer Heimat.

 

Mögen die Sudweyher Schützen sich auch weiterhin aus dieser Liebe zur Heimat dem jahrhundertealten Brauchtum zuwenden und die geschriebenen wie ungeschriebenen Tugenden in Ehren halten, dann werden sie auch in Zukunft ihres angestammten, unentbehrlichen Platzes in unserem dörflichen Gemeinwesen sicher sein.

 

Erich Rendigs