Das Leben der Kolonisten

Paul Athmann
 
Einen Vorteil haben die Neu-Siedler gegenüber den Alteingesessenen: Sie sind keine Leibeigenen, sondern frei. 50 Sie müssen zwar Abgaben leisten (Korn-Zehnten oder Schmalzehnten),  sind  aber keinem Herrn dienstpflichtig. Das gilt auch für ihre Erben. Dabei sind es nicht nur Holländer, die keine Leibeigenschaft kennen, sondern auch ehemalige Leibeigene des Erzbischofs, die sich hier als NeuSiedler niederlassen. Auswärtige Leibeigene werden allerdings nicht zugelassen.


Um die Zuwanderung und Vermischung von freien Neu-Siedlern mit eigenen und auswärtigen Leibeigenen zu verhindern, droht der Erzbischof allerdings mit Verlust der Freiheit bei Erbantritt, wenn eine Tochter einen Leibeigenen eines Anderen als des Erzbischofs selbst heiratet.


Eine wichtige Änderung ist auch das Recht der Kolonien-Gründer, das trocken gelegte Land an die Siedler verkaufen zu können. Dadurch wird Eigentum in Siedlerhand geschaffen, das auch vererbt werden kann.


Die Colonisten können das Land von den holländischen Unternehmern erwerben (z.B. von Bovo). Das Grundeigentum verbleibt zwar formal beim Erzbischof, ist aber auf Erbzinsbasis von den Siedlern zu erwerben. Der Zehnte ist dabei als Zinsabgabe und Anerkennung der ursprünglichen Eigentumsrechte zu betrachten. Bei einem Verkauf hat der Erzbischof das Vorkaufsrecht.51

 
Der Zehnte besteht oft nur aus dem „Schmalzehnten“, da eine Abgabe aus dem Getreideanbau („Kornzehnten“) in den feuchten Bruchgebieten kaum möglich ist.  So muss das elfte Füllen, Kalb, Zicklein oder Lamm aus dem Viehbestand, oder der Zehnte Teil des Honigs abgeliefert werden. Es ist auch möglich, den Zehnten in Geld zu bezahlen, und zwar durch einen (Silber)-Pfennig pro Hufe. 52

 
Bei Streitigkeiten muss ein eingesetzter Richter entscheiden. In den neuen Kolonien  wird Bovo schon 1158 im Kaiserlichen Privileg als Richter bestimmt. Auch hier spielt kein Grundherr mehr eine direkte Rolle, außer dass der Richter im Konsens mit dem Erzbischof einerseits und dem Sachsenfürst Heinrich andererseits Recht sprechen muss. 53 Für andere Kolonien, z.B. Brinkum,  nimmt vermutlich statt des Erzbischofs und des Sachsenfürsten sein Ministerialer und gleichzeitig  Heinrich dem Löwen dienende Friedrich von Mackenstedt die Rolle des obersten Richters ein. 54

 
Das Leben ist trotz der durch Gräben trockengelegten Bruch-Flächen sehr mühsam und von Gefahren geprägt: Immer wieder gibt es Hochwasser in der Weyher / Leester Marsch - nicht nur durch Deichbrüche an der Weser. Auch die Zuflüsse der Weser (Hache, Ochtum und Mühlenbach) treten fast jährlich über die Ufer. Dadurch werden auch die Bruchländer in Mitleidenschaft gezogen. Die Überschwemmungen treffen gerade die Neu-Siedler besonders hart, da sie ja in der Regel Kulturland ausschließlich in den Brüchen zugewiesen bekommen haben.


Die Bewohner der Marsch, insbesondere in Ahausen, Dreye und am Rande von Kirchweyhe (Scharmarsch, Koppel) hatten sich schon immer auf die ständigen Hochwasser eingerichtet, indem sie ihre Häuser auf Wurten errichteten. Auch der Name der Straße „Auf dem Warpel“ in Sudweyhe geht auf solche aufgehäuften Wurten zurück. Als die ersten Häuser dort errichtet wurden, ging an Sudweyhe wohl noch der alte Weserarm vorbei, und es kam zu regelmäßigen Überschwemmungen bis an den Vorgeestrand. Auch einige Häuser in der Scharmarsch von Kirchweyhe sind auf Wurten errichtet.


Erst im 17. Jahrhundert werden die Deiche als „Winterdeiche“ angelegt: Sie werden soweit erhöht, dass sie den Winterhochwassern bis auf Ausnahmen standhalten können. Bis dahin existierten vermutlich, wenn überhaupt, nur niedrige sogenannte Sommer-Deiche.

 

Eine Überschwemmung kann auf folgende Weise entstehen: 

  • durch Weserhochwasser und durch den Bruch der Weserdeiche. Dies geschieht meist im Winter oder   Frühjahr nach der Schneeschmelze. Aber es gibt auch Sommerhochwasser bei starken Regenfällen. Auch die Nebenflüsse der Weser (z.B. die Eyter) können, z.B. bei einem Eisstau, überlaufen und die Marsch überschwemmen. 
  • bei Sturmfluten an der Nordsee, wenn das Weser-Wasser in die Ochtum gedrückt wird. Ebbe und Flut sind zu dieser Zeit bis nach Achim spürbar, und eine Sturmflut kann auch den Wasserstand in der Weser und ihren Nebenflüssen in die Höhe treiben.

Während die Winterhochwasser meist keinen landwirtschaftlichen Schaden anrichten, sondern im Gegenteil wegen der düngenden Wirkung willkommen sind, führen die Sommer-Hochwasser oft zur Vernichtung der gesamten Einsaat auf den Äckern, oder zum Verlust des auf den Marsch-Wiesen weidenden Viehs. Manchmal steigt das Wasser so hoch, dass es selbst in die auf Wurten stehenden Häuser dringt.


Bei überschwemmter Marsch sind die Wege meist unpassierbar, und man ist auf Ruderboote angewiesen.
Auf der anderen Seite sind die Böden in der Marsch und in den Brüchen besonders fruchtbar, und die Ernten bringen wesentlich mehr als auf der kargen Geest. Das regelmäßige Hochwasser sorgt durch Absetzen von Sedimenten für eine gute Düngung des Bodens.