Die Leister

Um 1800 stand der bremische Handel bereits in voller Blüte.Der Güterverkehr beruhte in erster Linie auf der Beförderung der über Bremen ein- und ausgeführten Waren. In besonderem Maße wurde dabei Bremen neben Hamburg zum Einfallstor für den Handel ins Landesinnere. Und weil die Wareneinfuhr in Bremen immer größer war als die -ausfuhr, so war im Ergebnis die Transportmöglichkeit für die Importgüter ins Binnenland stets knapp.

 

Anfangs erkannten die Bauern in Brinkum, Erichshof und Leeste ihre Chance, duch das Angebot der sogenannten Vorspanndienste den einen oder anderen Taler zusätzlich zu machen. Bald aber sahen sie die Gelegenheit selst ein Fuhrgeschäft zu betreiben. Und so gab es vorzugsweise in Leeste und Brinkum .zahlreiche Bauernfamilien, die einen ihrer Angehörigen , meistens den erwachsenen Sohn, mit einem Gespann und einem Frachtwagen in die Welt hinausschickten. Sicherlich hat die günstige Lage an den beiden Haupthandelswegen Bremen-Nienburg-Hannover und weiter nach Frankfurt und Nürnberg und nach den östlichen Regionen über Braunschweig nach Leipzig, Sachsen, Berlin und Schlesien, und Bremen-Osnabrück-Rheinland in erheblichem Maße dazu beigetragen, dass Leeste und die benachbarten Bauernschaften als die bedeutendste Fuhrmannsgilkde Deutschlands entwickelt hat.

 

Um 1830 werden hier 250 Namen von Fuhrleuten genannt,; von ihnen gehören zur Bauernschaft Leeste 178, Brinkum 17, Erichshof 9, Barrien 20, Syke 7, Süstedt 2, Susweyhe 1, Arsten 4, Habenhausen 1 und nur 20 waren in der Stadt Bremen selbst beheimatet. Insbesondere in Leeste haben einige Fuhrleute mehrere Frachtfuhrgeschäfte unterhalten. Der Leester Claus Schulte soll angeblich das größte Fuhrgeschäft gehabt haben, zeitweise hatte er 28 Pferde, eine eigene Schmiede und sogar eine eigene Stellmacherei. 

 

Weil die meisten Frachtfahrer in Leesr ansääsig waren, wurden sie allesamt die "Leister" genannt, selbst die, die gar nicht in Leeste wohnten. Unter dieser Bezeichnung wurden sie sogar in amtlichen Listen geführt. Eine Konkurrenz bestand für sie nur in Süddeutschland und hier besonders in Thüringen in den sogenannten "Oberländern". Am Bremer Platz waren sie jedoch ohne jegliche Bedeutung. In einem Gutachten aus dem Jahr 1825 wird hierüber berichtet:

 

"Die fremden oder eigentlichen oberländischen Fuhrleute sind nur unbedeutend wenig an der Zahl gegen die in unserer Nachbarschaft wohnenden und haben obendrein noch viel Spielraum vor diesen voraus, denn hat ein Fremder im Oberlande auch auf Bremen seine Ladung, und hört bis nach Hannover, daß in Harburg, Lüneburg etc. der Frachtlohn höher aks in Bremen sey, si giebt er seine Ladung in Hannover ab und kommt nicht auf hier, welche hannöversche Fuheleute, welche sonst leer, aber doch bestimmt auf hier gekommen wären, mitgebracht wird, dagegen unsere benachbarten Fuhrleute mit ihrer Ladung auch hier eintreffen, wenn auch der Lohn in Haarburg oder Lüneburg höher steht."

 

Die Leister hatten sich im Laufe der Zeit einen guten Ruf erworben. Man kannte sie an allen Handelsplätzen in Deutschland unter dieser Bezeichnung. Leister zu sein, war eine besondere Auszeichnung. Maßgeblichen Anteil daran hatte auch das Amt Syke. Es sorgte nämlich dafür, dass nur unbescholtene Bauern das Frachtfuhrgeschäft ausüben durften, die auch in der Lage waren im Schadensfall in Regress genommen werden konnten. Und so nahm das Amt Syke des Öfteren Gelegenheit, die Spediteure, die sogenannten "Güterbesteder", in Bremen vor leichtsinnigen Amtsunterlagen vorbeugend zu warnen. In einem solchen Warnschreiben an die Inspektion des Frachtfuhrwesens in Bremen vom 28. Aug. 1827 heißt es:

 

" Es ist uns seit einiger Zeit bemerklich, daß auch Miethsleute und Unverheyratete aus hiesigem Amte beginnen, Pferde und Wagen sich anzuschaffen, und auf eigene Gefahr und Kosten Fracht zu fahren. Die Rücksicht nicht nur auf das Wohl dieser Amtseinwohner, daß sie bey diesem Gewerbe ein nicht durchzuführendes Wohlleben sich angewöhnen, und schädlich in ihre Familie übertragen, daß sie nicht in jeder Jahreszeit Verdienst finden, und dann Pferde umsonst füttern, daß sie selten des Vermögens sind, um die bey solchem Gewerbe vorfallenden Unglücksfälle, Unvorsichtigkeiten und deren Folg und sich dann und die ihrigen en ertragen zu können, gewöhnlich Schulden machen, in Konkurs gerathen und sich und die ihrigen durch diesen für sie selten passende Gewerbe ins Unglück und an den Bettelstab bringen, sondern auch die Rücksichten auf das Gemeinwohl des Handelsstandes und der Gastwirthe, indem solcher Gattung nicht ansässigen Frachtfahrern eine Ladung selten sicher anzuvertrauen ist. Alle diese Rücksichten, deren Wahrheit wir durch traurige neuere Beyspiele des Selbsterhängens eines solchen verschuldeten Frachtfahrers unterwegs neben dem beladenen Wagen, zum Aufenthalte der Waaren, des Entwenden der Waare in fremden Lande, mehrerer Konkurse und gänzliche Verarmungen aus hiesigem Amte belegen zu können, bewegen und nöthigen uns, auf Mittel zur Stöhrung solcher Uebel Bedacht zu nehmen."

 

Danach folgt ein Namensverzeichnis derjenigen Frachtfahrer, "denen Waaren anzuvertrauen, gefährlich ist", der Bauernschaften Brinkum, Leeste und Erichshof, zu Kenntnisnahme der Güterbesteder. Diese Güterbesteder waren die Vermittler zwischen Kaufmann und Frachtfuhrmann. Anfänglich war dies ein rein privates Kommissionsgeschäft, bald wurde es aber unter staatliche Aufsicht gestellt. Zunächst in drei Stederbezirke aufgeteilt, wurde das Geshäft dann aber zusammengelegt zu einem Bezirk. Ohne Vermittlung des Besteders durfte kein Bremer Kaufmann einen Vertrag mit einem Fuhrmann abschließen. 1839 erhielt der Besteder für die Beladung eines zweispännigen Wagens z.B. nach Hannover oder Osnabrück 5,83 Mark. Außerdem erhielten der Schreiber ein Geschenk für die "Begünstigung oder Nichtzurücksetzung" und die Auflader ein Trinkgeld. Wenn der Fuhrmann von seiner Reise zurückgekehrt war, ließ er sich bei seinem Besteder für eine neue Fahrt einschreiben. Er musste dann einige Tage warten bis die bereits vorgemerkten Kollegen abgefertigt waren oder  bis volle Fracht für seine Route vorlag.  Dies nannte man "stapeln". Hierfür schrieben die Bestimmungen aus dem Jahr 1818 vor, dass ein Fuhrmann, sobald er sich hatte einschreiben lassen, täglich bei dem Güterbesteder anfragen musste, wenn er zum Laden zu erscheinen hatte. Erhielt er dann die Anweisung zum Laden der Waren, so war er verpflichtet, diese binnen 24 Stunden zu laden. Hier und da gab es allerdings Missstände. So hatte man 1821 Veranlassung, darauf hinzuweisen, dass jeder in der Stadt Bremen oder in der Nachbarschaft wohnende Fuhrmann sich nicht eher bei einem der drei Güterbesteder einschreiben lassen durfte, als bis er die Pferde zu Hause hatte, mir denen er die Reise machen wollte. Weiterhin war er verpflichtet, die Pferde vom Tage des Einschreibens bis zum Verladen zu Hause zu halten. Bei diesem sogenannten Reiheverfahren wurden die Leister regelmäig den Fremden vorgezogen. Die Leester und Brinkumer Fuhrleute hatten schon länger das Recht und die Möglichkeit, die Wartezeiten bei ihrer Familie  und auf ihrem Hof nutzbringend einzusetzen. Dieses Stapelrecht wurde auf die Fuhrleute aus Barrien und Syke erst ab dem 11. November 1825 ausgedehnt. Fremde Fuhrleute dagegen mussten ausnahmslos in der Stadt auf neue Fracht warten und waren gezwungen, die zahlreichen Fuhrmannsgasthäuser aufzusuchen. 

Diese Auswärtigen, namentlich die Thüringer, trieben währed dieser Stapelzeit häufig einen kleinen unbedeutenden Handel in Bremen mit Produkten ihrer Heimat, um auf diese Weise einen Teil ihrer Mehrkosten aufzufangen. Die Gasthäuser waren ganz und gar als Ausspannwirtschaften eingerichtet und verfügten außerdem über versicherte Frachtlagerräume. Ein Senatsbeschluss vom 24. März 1843 bestimmte die Versicherungspflicht und begründete sie wie folgt:

 

"Bekanntlich ist es in neuerer Zeit immer mehr in Gebrauch gekommen, daß der Fuhrmann die Frachtgüter nicht bei dem Hause oder Packraume des Absenders aufladet, sondern sie mittelst kleiner Wagen von den verschiedenen Versendern zusammenholen und nach dem Wirtshause, wo er sich mit seinem Gespanne aufhält, bringen läßt, um sie demnächst , wenn er sich zur Abfahrt im Stande befindet, daselbst aufzuladen. In ähnlicher Art pflegt dann auch in Betreff der nach Bremen kommenden Güter die Ablieferung derselben an die einzelnen Empfänger bewerkstelligt zu werden."

 

Die meisten dieser Fuhrmannswirtshäuser lagen in der Bremer Neustadt, vor allem in der Osterstraße ("Im Wappen von Osnabrück", "Drei Kronen", "Zur Sonne", "Im gelben Pferde", "Zu den drei Rosen"), in der Westerstraße ("Im goldenen Engel", "Zur goldenen Krone", "Im hannoverschen Wappen", "Zum Walfisch") und in der Großen Johannisstraße. Wenn der Frachtfahrer seinen Wagen beladen hatte, erhielt er seinen vorgedruckten Frachtbrief, in dem die geladenen Güter einzeln aufgeführt waren. Ein solcher Frachtbrief war wie folgt formuliert:

 

Bremen, ….Anno 17..

Hochgeehrte

Sende unter Geleite GOTTES durch ...

von …. unter hiebey stehenden Signo &

No. auch dem Beding, daß der Fuhrmann die Güter

ohnabgeladen auf einer Achse liefere, diesen Frachtbrieff,

worin die geladenen Waaren nach ihren wahren Unter-

scheid und Gewichte specifice und richtig verzeichnet

seyn, nicht versetze, sondern bey den Wagen lasse, und

jedesmahl bey den Zollen in Originali vorzeige, keine

verbottenen Straßen fahre, auch allen Zoll und Weg-

geld getreulich entrichte, nachfolgende Waaren: 

Wurde nun der Fuhrmann obige seine Pflicht nicht

in acht nehmen, werde, die Herren Zoll-Einnehmer,

sich lediglich an dessen Person, Geschirr und Pferde

halten. Nach richtiger und rechter Zeit wohlconditio-

niret gethaner Liefferung geliebe der Herr Fracht

zu zahlen.

 

Dienstl. gegrüßet, Adieu

D. Hrn. D. w. 

 

Die Beladung der Wagen konnte sich hinsichtlich des Gewichts nur in engen Grenzen halten, denn Straßen im heutigen Sinne, gab es bis zur napoleonischen Zeit fast nur in größeren Städten. Alle anderen sogenannten Straßen, selbst die damaligen Hauptverkehrswege waren häufig in einem erbärmlichen Zustand. Da wo kurze Strecken bereits gepflastert waren - wie auch der Weg von Brinkum nach Bremen - musste ein Weggeld entrichtet werden. Aber man war an die Einhaltung bestimmter Wegstrecken gebunden. Schon im Jahr 1515 heißt es in einer Erfurter Geleitakte  im "Wegweiser der Kreutzstraßen betreffend", daß z.B. nach Bremen nur folgende Straße benutzt werden darf:

 

"Von Nürnberg nach dem Heubach, Gerfenau, oder die Lange Wiesen auf Erfurt zum Löberthor hinein, durch die Stadt zum Andreasthor hinaus nach Nordhausen, Göttingen und dann nach Münden. Solches sind die rechten Straßen von Nürnberg in die Seestädte und wieder zurück, und da ein Fuhrmann eine andere Straße braucht oder betreten wird, ist strafwürdig."

 

Jeder musste sehen, wie er durchkam. War eine Spur zu weit ausgefahren, bahnte man sich eine neue. Dabei hielt man die allgemeine Richtung bei. Das Fortkommen wurde zusätzlich durch die verschiedenen Spurbreiten der Wagen noch erschwert. Eine Verordnung des Herzogs Georg Wilhelm von Braunschweig vom 6. Juni 1692 bestimmte allerdings, dass in seinem Lande die Wagenspur - die Felgen eingerechnet - fünf Fuß betragen sollte. Nun konnte er die fremden durchreisenden Fuhrleute aber nicht zwingen, die Spurbreite ihrer Wagen zu ändern. Aber es zeigte sich bald, dass viele Fuhrleute, die regelmäßig in Niedersachsen unterwegs waren, dass sie freiwillig die notwendigen Änderungen vornahmen. 

 

Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war meistens noch der 2-rädrige Karren in Gebrauch. Sogar in Bremen hat der 2-rädrige Karren noch im Jahr 1826 den 4-rädrigen Wagen zahlenmüßig überflügelt. Sicherlich haben u. a. auch die schlechten Straßenbedingungen hierzu ebenso beigetragen wie die Anschaffungskosten für einen solchen 4-rädrigen Wagen. Der Preis lag hierfür samt allem Zubehör bei 540-570 Mark. Fast die Hälfte der dem bremischen Handel dienenden Wagen wurde in Brinkum und Leeste gebaut. Die erhöhte Nachfrage war aber nicht nur bei den Wagen gegeben, sondern erstreckte sich auch auf die hier aufgezogenen und eingefahrenen Pferde. So wie Vegesack die Fachleute für den Schiffbau stellte, waren die Leister das Non-plus-ultra im Fuhrwerkswesen. 

 

Es hat mit Sicherheit viel Erfahrung dazugehört, einen vierspännigen Frachtwagen zu lenken, denn eine besondere Leine für Zwei- oder gar Vierspänner gab es noch nicht. Die Pferde wurden in erster Linie durch Peitschenzeichen gelenkt, an die sich die Pferde zunehmend gewöhnten. Dabei trugen die Pferde extrem schwere Kummetgeschirre, wie man sich das heute kaum vorstellen kann. An diesen Kummetgeschirren befanden sich häufig brauchbare Utensilien wie Rosskämme oder eine Laterne. Der Frachtwagen selbst war meistens mit einer Plane bedeckt, unter dem Leiterwagen befand sich ein großer viereckiger Kasten, das sogenannte Schiff, das die notwendigen Utensilien des Fuhrmann enthielt u. a. auch sein Kleidersack. Beide Wagenseiten waren in der Mitte offen, um Fässer einhängen zu können. Die Fuhrleute selbst trugen lange blaue Kittel, die oft vorn oder auf den Achseln mir bunter Seide besetzt waren, dazu kurze Lederhosen und lange Strümpfe in den Schaftstiefeln, und auf dem Kopf trugen sie eine Zipfelmütze.

 

Der Fahrtrieb vererbte sich vom Vater auf den Sohn. Auch die arbeitsreiche Zeit für den Bauern im Frühling und im Sommer hielt sie nicht davor zurück, immer wieder auf große Fahrt zu gehen und ihre Heimat zu verlassen. Wenn der Besteder Fracht für sie hatte, musste der Auftrag ausgeführt werden. Dieses Pflichtbewusstsein wussten die Besteder zu schätzen und so entwickelte sich zwischen ihnen und den Fuhrleuten ein großes Vertrauensverhältnis. Pflichtbewusstsein war das eine, die Leidenschaft auf Fahrt zu gehen, das andere. Und so kam es, dass in vielen Fällen die häuslichen Pflichten hinten angestellt wurden und die Bestellung der Felder den Daheimgebliebenen überlassen wurde. Der eigene bäuerliche Betrieb wurde dabei mehr oder weniger vernachlässigt. 1785 berichtet der Leester Pastor Holzmann an das Amt Syke:

 

"Der Nahrungspfennig ist außer dem Ackerbau im Dorfe bei denen, die eigene Stellen haben, das Frachtfahren, der stärkste Betrieb, welches aber die ersten und besten Höfe so zurückgesetzt hat, das auf diesem Dorfe eine ganz schwere Schuldenlast ruht, und vermutlich keine Dorfschaft im Lande ihr gleichkommt. Sie wird gewiß eine Summe von 70 bis 80.000 Talern betragen. Diese Schulden entstehen daher, wenn die Frachtfahrer ihre Pferde überladen, dabei schlecht auf die Pferde und Geschirr achtgeben, alsdann kepieren die Pferde. Von Frachtgeldern bleibt bei den wenigsten Überfluß, weil davon zu Hause und auf den Reisen luxuriös gelebt wird. Wenn nun neue Pferde und Wagen angeschafft werden müssen, so ist kein andrer Mittel, als eine Summe aufzuleihen, und dafür Land zu verpfänden und so häufen sich die Schulden immer mehr.. Durch das Frachtfahren wird nicht nur bei vielen, sondern bei den meisten der Ackerbau als ein Nebengewerbe angesehen. Sie lassen ihren Acker liegen und bestellen ihn nicht zur gehörigen Zeit, sondern auch das viele Gute, so ihnen Gott durch die schöne Gegend, oder den guten Grund und Boden geschenkt hat, wird nicht recht genutzet, teils vernachlässiget und gemißbrauchet; zu Verbesserungen werden keine Überlegungen gemacht. Wird von einem oder anderem guten Hauswirt davon etwas in Vorschlag gebracht, so heißt es, dazu haben wir keine Zeit. Der Trieb zum Frachtfahren erstickt all das Gute und erdrückt es, wovon auch die Nachkommen in der Folge großen Nutzen haben könnten."